„Es gibt Solche und Solche.
Aber es gibt mehr Solche als Solche.“
Lotti Huber Autorin / Kabarettistin
Schubladendenken / Vorurteile
Vorgefertigte Meinungen haben nur die anderen – so denken viele.
Wie weltoffen, tolerant und aufgeschlossen sind wir wirklich?
Unsere Schubladen, in die wir unsere Mitmenschen einsortieren, sind unsere ständigen Begleiter. Gut – Schlecht – Mitleiderregend – Peinlich - mit Vorsicht zu behandeln usw.
Wir haben nichts gegen Ausländer (wenn sie fließend deutsch sprechen und in einer gehobenen Stellung sind). Wir akzeptieren Schwule und Lesben (solange sie nicht in der Öffentlichkeit knutschen). Wir finden Religionsfreiheit gut (aber man muss ja nicht gleich im Sari durch die Fußgängerzone laufen und „Hare Krishna“ singen). Wir haben Mitgefühl für Asylbewerber (aber müssen die denn wirklich in unmittelbarer Nachbarschaft untergebracht werden?).
Andersartiges ist manchen nicht immer geheuer, da halten einige, dann doch lieber Abstand.
Aber auch im vertrauten Umfeld wird fleißig in Schubladen sortiert.
Der Nachbar ist ein Proll. Die Oma aus dem Erdgeschoss ist lieb und tüddelig. Der Ehemann ein Egoist. Die große Schwester eine Tussi. Der Chef ein Tyrann. Der Kollege ein Kriecher. Der beste Freund, jemand mit dem man Pferde stehlen kann. Mit der besten Freundin kann man über alles reden. Frau Huber ist eine Tratsche.
Im Park setzen wir uns gerne neben die freundlich lächelnde Mutter mit Kind.
Sitzt hingegen ein Bunthaariger mit Bierflasche auf einer Bank, gehen wir lieber ein paar Schritte weiter und hoffen woanders ein schönes Plätzchen zu finden.
Schon im Kleinkindalter wurde uns beigebracht unser Leben zu kategorisieren.
Brav - toll – bäh - heiß, usw.
Und selbstverständlich geben wir dies dann an unsere eigenen Kinder weiter:
„Wenn Du ne 5 in Mathe hast, wirst Du es im späteren Leben bestimmt einmal schwer haben.“ Schreibt der Sprössling lauter 1er, dann befürchten wir unter Umständen, dass es ein Streber wird.
Uns ist natürlich bewusst, dass wir von anderen ebenfalls in Schubladen gepackt werden.
Deshalb tun wir auch einiges für unsere Imagepflege. Manche setzen sich dabei heftig unter
Druck. „Was denkt die Wurstverkäuferin von mir?“ „Hoffentlich blamier ich mich nicht vor meinen Kollegen.“ „Wie stehe ich da, wenn mein Partner wieder einmal eine unpassende Bemerkung macht?“
In Schubladen zu denken gehört zu unserem natürlichen Verhalten. Es ist manchmal sogar notwendig, um schnell entscheiden zu können, was für uns richtig ist und was nicht.
Was ist bedrohlich und was ist harmlos.
Wir sollten jedoch grundsätzlich in Erwägung ziehen, dass wir uns auch irren könnten.
Unser Bewusstsein ist so eingerichtet, dass wir nur einen kleinen Teil von dem wahrnehmen,
was tatsächlich ist.
Dennoch sollten wir uns auf das verlassen, was uns unsere innere Stimme sagt.
Auch wenn wir wissen: Es ist nicht immer die ganze Wahrheit.
Wir können nicht immer in die Tiefe gehen. Wir müssen den finster dreinschauenden Typen nicht ansprechen, nur um herauszufinden, ob er uns wirklich in die Fresse haut. Wir fahren wahrscheinlich besser damit, wenn wir ihn nicht weiter beachten und möglichst unauffällig unserer Wege gehen.
Aber eines sollten wir tunlichst unterlassen.
Wir sollten die Schublade, in die wir jemanden gesteckt haben, nicht ein für allemal absperren.
Erst wenn wir bereit sind, etwas genauer hinzuschauen, kann sich etwas ändern.
Wir sollten unseren Mitmenschen die Chance geben, sich auch von einer anderen Seite zu zeigen.
Und natürlich sollten wir auch bereit sein, diese andere Seite sehen zu wollen.
Vielleicht ist die liebe Oma ja gar nicht so tüddelig. Vielleicht ist der Proll von nebenan ja ganz nett. Vielleicht hält der Chef, von dem wir gerade einen Rüffler bekommen haben, uns ja doch nicht für einen totalen Versager. Vielleicht ist der Ehemann ja gar nicht so egoistisch.
Vielleicht ist es besser, die eigenen Bedürfnisse beizeiten, klar und freundlich zum Ausdruck zu bringen, statt schweigend auf die Bestätigung dafür zu warten, dass man wieder einmal übersehen wird.
Es könnte sich lohnen.
„Es gehört mehr Mut dazu, seine Meinung zuändern, als an ihr festzuhalten.“
Friedrich Hebbel